Aus der Günzburger Zeitung, vom 11. Juni 2013:

Musikalischer Frühling

In 20 Liedern durch Tag und Jahr

camerata vocale Günzburg nimmt das Publikum mit auf eine musikalische Raum- und Zeitreise Von Helmut Kircher

 

„Lasst uns singen und fröhlich sein“ unter Leitung von Jürgen Rettenmaier im Wettenhauser Kaisersaal. Foto: Helmut Kircher

Wettenhausen

Musik, frisch wie Fahrtwind. Eine Herz und Gemüt umwehende Volksliedinnerlichkeit, die, entgegen aller Hype-Ideologie, zu zarten Melodien, zu klarem Wohlklang und lichter Reinheit drängt. Mit einem Klangvokabular, das von Brahms bis Reger reicht, das die fragile Welt des Jahresablaufs nachzeichnet, Leidenschaft und Abschiedsschmerz ausbalanciert, zwischen Impulsivität und Spaßvogelei wechselt, Innovation mit Tradition verbindet und die chorische Ausdrucksfähigkeit besonders dort zum Leuchten bringt, wo sie vom Renaissance-Ensemble des St. Thomas-Gymnasiums Wettenhausen (Leitung Christoph Becker) auf so exotischen Instrumenten wie Krummhorn, Pommern, Zinken und Gemshörnern mit einem erotisch fremdartigen Parfum der Verführung durchtränkt wird.

Zur Einstimmung ein geistliches Trinklied der Nonnen vom Niederrhein: „Lasst uns singen und fröhlich sein“, Mottogeber der gut einstündigen chorisch/instrumentalen Blüte des „Musikalischen Frühlings im Schwäbischen Barockwinkel“ im Kaisersaal des Klosters Wettenhausen. Wobei sich das Trinklied, im Takt schwingenden Reigens, allerdings allein auf den berauschenden Duft der Rosen bezieht. Eindeutiger wird’s dann schon bei nachfolgender Liebeslust und -leid im Zuge frühlingsgefühligem Stürmen und Drängen, mit mannhaft dunkel timbrierter „Untreue“, mit Krummhorn begleiteter, „Lieb umfangender“ Herzschmerztendenz, mit wohlig melancholischer, sopransolistischer Hoffnungsstimme „Gemüth verwirrender“ Paradeisanleihe.

Jeder Ton hat seine eigene Wirkung, steuert den Fluss der Musik, kanalisiert Pausen, Phrasierung, Spannungsbögen. Singen sei gesund und mache Spaß, so zumindest behauptet Chorleiter Jürgen Rettenmaier, mit eisernem Dirigentenblick das Publikum fixierend. Oha! Ein Kurz-Chorworkshop für Zuhörer bahnt sich an, mit Brahms „Erlaube mir, feins Mädchen“, oder einem englischen Sommerkanon. Rettenmaier: Nicht schlimm, nur siebenstimmig. Sopran singt vor, Bass singt vor, Publikum dreigeteilt singt nach. Klappt wie einstudiert. Bravo!

„Tierisch heiter“ brechen sich dann Sommerfreuden chorisch Bahn. Mit einem zwickenden, pickenden, kitzelnden, bitzelnden Floh, einem Jäger von Furcht und Elend geplagt, oder – trulla, trulla, trullala – der zwischen Ulm und Stuagat Dampfpirouetten drehenden “schwäbischen Eisenbahne“. Was bleibt da der vornehmen Blässe tiefsinniger Lyrik? Nichts bleibt ihr, als dem ungehemmt in Szene gesetzten, pulsierend animierenden camerata-vocale-Witz zu weichen. Allein schon Jürgen Rettenmaiers federleicht elegante, farbenreich dynamische Fassung des „Kuckuck-Esel“-Konflikts, ein geradezu virtuoses Kabinettstückchen chorischer Kunst, weitab aller überkommener Schubladisierung. Bevor verschattete Klangschleier sich mit herbstlichen Nebeln mischen und klirrend kalte Töne an frostigen Winterabenden den „grünen Wald entlaubet“ haben, geht es noch auf Kurztrip in drei Liedern um die halbe Welt. Mit der Farbenfülle hymnisch bewegter Weltumspannungsmelodie einen norwegischen Hochzeitsmarsch nachzeichnend, im Glücksgefühl venezolanisch markanter Rhythmen schwelgend, oder einer schwarzen Schönheit bei Nacht „nahe dem Meer und unter Sternen“ eine Kerze – womöglich auch mehr – entzündend. Am Schluss, der Welt ihre Melancholie in einem Mondlied mitteilend, natürlich Regers „Der Mond ist aufgegangen“, zusätzlich weich gespült durch einen englischen Kanon aus dem 13. Jahrhundert mit einer „Pilgerreise der Seelen durch die Reiche der Erde“.

Ein in jugendliches Gefühlsspektrum eingebundenes Musizieren als letzte Bastion volksliedzugewandter Furchtlosigkeit. Oder gar ein Gegenentwurf zu neudeutscher Mainstreambesessenheit? Wie auch immer, lang anhaltender Beifall.